Amelie: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Falschbeschuldigung
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* Die behauptete Vergewaltigung im Toyota habe aus Platzgründen nicht stattfinden können.
 
* Die behauptete Vergewaltigung im Toyota habe aus Platzgründen nicht stattfinden können.
 
* „Amelie“ habe in großen Mengen die Gerinnungshemmer [[Phenprocoumon|Marcumar]] und [[Acetylsalicylsäure|Aspirin]] zu sich genommen, um sich selbst [[Hämatom]]e zuzufügen.
 
* „Amelie“ habe in großen Mengen die Gerinnungshemmer [[Phenprocoumon|Marcumar]] und [[Acetylsalicylsäure|Aspirin]] zu sich genommen, um sich selbst [[Hämatom]]e zuzufügen.
* „Amelie“ sei an Borderline erkrankt, was die Therapeuten wider besseres Wissen in der Hauptverhandlung bestritten hätten.<ref name="Burow" />
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* „Amelie“ sei an Borderline erkrankt, was die Therapeuten wider besseres Wissen in der Hauptverhandlung bestritten hätten.
  
 
Eine Stellungnahme der prüfenden Staatsanwältin stritt diese Begründungen ab. Das [[Landgericht Oldenburg]] ordnete die Wiederaufnahme an, das neue Verfahren gegen Bernhard M. endete am 14. Dezember 2005 mit einem [[Freispruch]] wegen „erwiesener Unschuld“.
 
Eine Stellungnahme der prüfenden Staatsanwältin stritt diese Begründungen ab. Das [[Landgericht Oldenburg]] ordnete die Wiederaufnahme an, das neue Verfahren gegen Bernhard M. endete am 14. Dezember 2005 mit einem [[Freispruch]] wegen „erwiesener Unschuld“.

Version vom 14. November 2022, 22:37 Uhr

Der Fall Amelie ist die Geschichte einer 18jährigen Schülerin, die ihren Vater und die ihren Onkel der Vergewaltigung beschuldigte. Sie beschäftigte Mitte der neunziger Jahre Polizisten, Staatsanwälte, Verteidiger, Ärzte, Psychologen und Richter. Es ist die Geschichte, wie eine junge Frau mit ihren Enthüllungen bei der Helferinnenindustrie[wm] offene Türen einrennt, Frauen­schutz­vereine ihr blinden Glauben schenken und die am Borderline-Syndrom[wp] erkrankte Frau in ihrem Wahn immer wieder bestärkt. Für die angeschuldigten Männer endet es mit zwei Fehlurteilen vor dem Landgericht Osnabrück, die 1995 zu einer Freiheits­strafe von sieben Jahren, beziehungsweise 1996 zu einer Freiheits­strafe von viereinhalb Jahren führten.

Unrecht im Namen des Volkes

Eine junge Frau beschuldigt Vater und Onkel, sie vergewaltigt zu haben. Das Landgericht Osnabrück schickt die Männer für viele Jahre ins Gefängnis - ein Justizirrtum. Lehrstück über Richter, die im blinden Glauben an die Behauptungen eines Opfers die Fakten verkennen.

Dies ist die Geschichte eines Justizirrtums, von dem die Justiz nichts wissen will. Die Gerichte schweigen, doch es schreit das Papier. Auf vielen hundert Seiten erzählen die Akten die Geschichte dieses großen Unrechts: in Vermerken, Termin­verfügungen, Tagebüchern, Strafanzeigen, Fotoserien, Zeugen­aussagen, Beschuldigten­vernehmungen, Mitschriften, Zustellungs­urkunden, Revisions­begehren, Rechnungen, Briefen, Beweis­anträgen, Zetteln, Protokollen, Diagnosen, Gutachten und Urteilen.

Es ist die Geschichte der 18jährigen Schülerin Amelie (Name geändert) aus Papenburg im Emsland, die ihres Vaters Adolf S. und die ihres Onkels Bernhard M. Sie beschäftigte Mitte der neunziger Jahre Polizisten, Staatsanwälte, Verteidiger, Ärzte, Psychologen und Richter. Eine verwirrende und böse Geschichte, die mit zwei Fehlurteilen endet, gefällt vom Landgericht Osnabrück: Adolf S. wird 1995 wegen Vergewaltigung seiner Tochter Amelie zu einer Freiheits­strafe von sieben Jahren, Bernhard M. wird 1996 wegen Vergewaltigung seiner Nichte Amelie zu einer Freiheits­strafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Geständnisse, Zeugnisse von Dritten oder andere Beweise hat es nicht gegeben - nur die Beschuldigungen eines jungen Mädchens und den Glauben der Richter.

Zwei Männer gerieten in die Mühlen der Justiz und wurden zermalmt. Einfache Papenburger Arbeiter, die sich nicht gut wehren können und für deren Schicksal sich im Grunde kein Mensch interessiert - eben ganz normale Angeklagte in diesem Land. Beide haben ihre Strafen inzwischen voll verbüßt. Bis heute beten sie in Endlos­schleifen ihre Version her: Sie hätten das Mädchen nicht angerührt. Beide leben im Abseits. Der ehemalige Kraftfahrer Adolf S. hat aus dem Gefängnis in mehr als 2500 Briefen Recht gefordert - bei Ministerien, Medien, Ämtern -, Antwort hat er allenfalls in Standardabsagen bekommen. Heute unterhält er sich irgendwo im Norden Deutschlands auf langen Spazier­gängen mit einem dicken Labrador.

Bernhard M., einst gut verdienender Arbeiter auf einer Ölbohrinsel in der Nordsee, ist eine zerschmetterte Existenz. Er hat sich in die Obhut der Psychiatrie geflüchtet, weil ihn Angst und der Gram über seine Verurteilung nicht mehr unter Menschen leben lassen. Er malt Bilder von blutenden Figuren, einsam in nacht­schwarzer Landschaft, auf die allein aus dem Himmel ein dünner Lichtstrahl fällt.

Als Amelie am 8. November 1994 ihren Vater bei der Polizei Papenburg wegen mehrfacher Vergewaltigung anzeigt, wird der sofort festgenommen. Sie selbst ist da schon mehr als vier Monate Patientin in der neu eröffneten Kinder- und Jugendpsychiatrie des Marienhospitals Papenburg. Ein junger Mann hatte sie abgewiesen und daraufhin hatte sie eine Menge Herztabletten ihrer Großmutter geschluckt und war eingeliefert worden. Diese unglückliche Liebe bezeugen Familien­angehörige und Amelie selbst. Sie zeigt in der Psychiatrie beängstigende Verhaltens­auf­fällig­keiten. Sie weint und zittert, sie nässt ein. Sie hält ihre unerfahrenen Betreuerinnen nach deren eigenen Aussagen mit immer neuen Anschlägen gegen sich selbst in Schrecken und Sorge. Ostentativ fügt sie sich mit Glasscherben, Rasier­klingen oder Spritzen blutende Wunden zu, verschwindet von der Station und löst Suchaktionen aus, sie platziert Abschieds­briefe und Todes­anzeigen für sich selbst so, dass die Therapeuten sie finden müssen, sie begeht Suizidversuche, bei denen sie sich entdecken lässt, trinkt Duschgel und Franz­branntwein und verschlingt wahllos Medikamente.

Irgendwann in dieser Phase beginnt sie ihren Vater anzuklagen: Er habe sie missbraucht seit sie zwölf ist. Fing sie selbst davon an? Hat sie jemand danach gefragt? Wo die Beschuldigung letztlich herkommt, klärt weder die Glaub­würdigkeits­gutachterin M., die von der Staatsanwaltschaft beauftragt wird, noch später das Gericht, obwohl die Entstehung der Erstaussage in solchen Fällen den Ausschlag gibt. Das Stations­personal beteuert, man habe nie nachgebohrt, Amelie selbst sei es überlassen gewesen, ob sie sich anvertrauen wolle. Bei der Psychologin M. sagt Amelie allerdings, man hätte auf der Station "dauernd versucht, das rauszukriegen" und: "Die haben das irgendwie hier geahnt." Sicher ist, dass Amelie schließlich mit ihren Enthüllungen offene Türen einrennt, und wie eine Erlösung kommt es über die Station. Alles passt zueinander für den 38jährigen Chefarzt Dr. C., die 29jährige Psychologin Frau L., die 25jährige Kranken­schwester S. Amelie hat ein Erfolgserlebnis. Und die Glaub­würdigkeits­beauftragte M. ruft immer wieder auf der Station an und lässt sich bekräftigen, wie glaubwürdig das Mädchen sei. Diese Telefonate sind in ihren Gutachten dokumentiert.

Das vergewaltigte Mädchen war immer noch Jungfrau

Niemand befragt jene Patientin, die mit Amelie zu dieser Zeit über Monate das Zimmer teilt. Sie hätte erzählen können, wie die Stations­psychologin L. in den Therapiestunden auf sie einwirkte: "Ob ich nicht von meinem Vater oder meinem Onkel angefasst worden bin." Sie habe aber, sagt sie der ZEIT, keinen Gebrauch gemacht vom Angebot, die Verwandten zu belasten. Ihre damalige Freundin Amelie habe ein interessantes Buch gehabt: Das geheime Tagebuch der Laura Palmer. Es ist die albtraum­hafte, erotik­geladene Ich-Erzählung eines jungen Mädchens, das seit dem zwölften Lebensjahr vom Vater sexuell heimgesucht und schließlich ermordet wird. Den Titel schmückt das blutleere Gesicht einer Mädchenleiche. Kurz bevor sie ihren Vater anzeigt, schreibt auch Amelie am 3. November 1994 in einem "Tagebuch" nieder, was ihr widerfahren sein soll.

Drei Tage dauert die Hauptverhandlung gegen Adolf S., vom 27. bis zum 31. März 1995. Seine Tochter schildert unter Ausschluss der Öffentlichkeit die sexuellen Angriffe in allen brutalen Details, die sich dann auch im Urteil wiederfinden. Die erste Vergewaltigung datiert sie demnach in den Oktober 1988, als sie zwölf Jahre alt ist: wie der Vater nach einem Saufgelage Mutter und Geschwister durch Verwüstungen und Wutausbrüche in die Flucht schlug. Wie nur sie, Amelie, zurückblieb und grausam gezüchtigt wurde. Wie es bei dieser Misshandlung im Spielzimmer neben der Küche unter großen Schmerzen ("wie Messerstiche") zur ersten Vergewaltigung kam. Weitere Vergewaltigungen hätten über die nächsten Jahre verteilt stattgefunden, in ihrem Zimmer oder im Büro des Vaters, unbemerkt vom Rest der Familie, unter Drohen und Würgen.

Von den angeklagten Vergewaltigungen erkennt das Gericht sechs an. Dazu auch jene bestialische Geschichte mit dem Kleiderbügel, die Amelie erst sechs Wochen nach der Anzeige berichtet. Sie habe, heißt es, ihren Vater im Juli 1993 von einer Vergewaltigung abzuhalten versucht, indem sie vortäuschte, von ihm schwanger zu sein. Er habe daraufhin zu einem Kleiderbügel gegriffen und damit im Unterleib der Tochter herum­gestochert, im Glauben, eine gemeinsame Leibesfrucht abzutreiben. Das Blut sei ihr die Schenkel heruntergelaufen. Unerträgliche Qualen habe sie leiden müssen, in aller Stille.

Doch die Gynäkologen haben bei der Zeugin nichts gefunden. Sogar ihr Hymen war intakt. Amelie war Jungfrau. Bei der Untersuchung am 9. November 1994 konstatierte der Frauenarzt: "Sie könne nicht genau sagen, ob das Glied des Vaters in die Scheide eingedrungen sei", und weiter: "Der Hymenalsaum ist ringförmig angelegt. Eine Deflorations­verletzung läßt sich nicht nachweisen." Auch die Sache mit der vorgetäuschten Schwangerschaft ist gegen jede Logik: Kann man einen Vergewaltiger im Juli 1993 (!) mit der Behauptung erschrecken, von ihm schwanger zu sein, wenn der letzte Geschlechtsverkehr im Dezember 1991 (!) stattgefunden haben soll, wie Amelie dem Gericht erklärt? Weiß Vater Adolf, weiß Amelie, weiß das Gericht nicht, wie lange eine Schwangerschaft dauert?

Trotz solcher Widersprüche wird Adolf S. verurteilt. Sein Verteidiger tritt kaum in Erscheinung. Der natur­wissen­schaftlichen Seite des Problems gönnt das Gericht laut Gerichts­protokoll ganze zwei Minuten, so lange dauert der Auftritt des Gynäkologen als Zeuge. Dafür hat Amelies "Vertraute", die Kranken­schwester S., zuvor 22 Minuten sprechen dürfen, und im Anschluss äußert sich Dr. C., Amelies gläubiger Psychiater, 20 Minuten zur Sache.

Warum sollte ein junges Mädchen den Vater durch Lügen belasten?

Bei Amelie ist das Motiv naheliegend. Ihr Vater ist ein Gewitter, das über der Familie hängt, ein Wüterich, immer kurz vor der Explosion. Das berichten die Angehörigen übereinstimmend. Er terrorisiert seine Frau, misshandelt seine vier Kinder, zerstört die Einrichtung. Am härtesten trifft es Amelies ältere Schwester Bianca. Sie wird getreten, in den dunklen Heizungs­keller gesperrt und muss zur Strafe auf einem Bein im winterlichen Garten stehen. Nachbarn sehen es und helfen nicht. Bianca hört auf zu essen, sie erbricht sich bei den Mahlzeiten aus Angst vor ihrem Vater, und er zwingt sie, das Erbrochene wieder aufzuessen. Als sie sieben Jahre alt ist, muss sie wegen Auszehrung ins Krankenhaus. Dort wird sie künstlich ernährt, die Ärzte sehen ihr Leid und helfen nicht. Amelie selbst macht als Kind nachts in die Hose, weil sie sich nicht traut, am schlafenden Vater vorbei aufs Klo zu gehen. Immer wieder müssen die Eltern der Mutter, die nicht weit entfernt wohnen, wegen Adolfs Rasereien nach der Polizei rufen. Die kommt, schlichtet den so genannten Familienstreit, geht wieder. "Die Polizei sagte uns, sie können auch nichts machen", spricht Amelie ins Mikrofon der Glaub­würdigkeits­gutachterin M. "Die können ihn nicht mitnehmen. Höchstens bis zum nächsten Tag. Da müsste man 'ne andere Lösung finden."

Amelie findet eine andere Lösung. Es ist kein Zufall, dass sie die erste Vergewaltigung in einen Aggressions­exzess ihres Vaters bettet. Den Ausbruch 1988 hat es tatsächlich gegeben, das wird vor Gericht von allen Familien­mitgliedern bestätigt. Auch die Polizei war wieder da, fotografierte die demolierte Wohnung, die zerworfenen Scheiben und die Blutergüsse im Gesicht der 12jährigen Amelie - doch alles blieb, wie es war. Amelie begriff: Misshandelte Kinder kümmern keinen. Und später begreift sie: Für missbrauchte Kinder interessieren sich alle. Das ist 1994, ganz Deutschland ist aufmerksam geworden auf den sexuellen Missbrauch von Kindern. Die Zeitungen berichten in langen Serien von jungen Mädchen, die von ihren nächsten Verwandten vergewaltigt wurden, die elektronischen Medien sensibilisieren die Öffentlichkeit in großen Dokumentationen über die Verbrechen im Kinderzimmer. Amelie lässt kaum einen dieser Filme aus, die Verwandten berichten, sie hätten wiederholt einschlägige Sendungen für sie auf Video aufzeichnen müssen.

Zu dieser Zeit laufen an deutschen Gerichten unter öffentlicher Anteilnahme Mammut­prozesse, in denen Kinder­gärtner oder ganze Familien angeklagt sind, kleine Kinder auf unvorstellbare Weise missbraucht zu haben. Das Thema regt die Leute auf. Feministische Beratungs­stellen für sexuell missbrauchte Kinder, wie Wildwasser oder Zartbitter, schießen aus dem Boden. Psychologinnen arbeiten mit fragwürdigen "anatomisch korrekten Puppen", an deren ausgeprägten Geschlechts­teilen Kinder das Unaussprechliche bedeuten sollen. Mitarbeiterinnen aus Jugendämtern, aus Psychiatrie- und Sozial­stationen bilden sich bei "Aufdeckerinnen" fort, um den Familien ihr vermutetes Geheimnis zu entreißen, wenn nötig mithilfe der Justiz. Als Amelie ihre Beschuldigungen erhebt, existiert eine öffentliche Inquisition des guten Willens im Land. Auch in Osnabrück.

Alle scheinen zu glauben, es habe den Richtigen erwischt

Die Behauptung, missbraucht worden zu sein, macht aus dem erniedrigten, hilflosen Kind Amelie eine mächtige Person. Der verhasste Vater rennt brüllend gegen die Mauern des Marien­krankenhauses, doch die Tochter erteilt ihm "keine Besuchs­erlaubnis". Sie muss sich nicht mehr fürchten, sie ist jetzt vor ihm in Sicherheit und erledigt ihren Feind aus der Ferne - mit Beistand von Psychiatern und Richtern. Für das, was er getan hat, konnte sie ihn nicht zur Rechenschaft ziehen, also richtet sie ihn für etwas, das er nicht getan hat.

Amelie leistet damit der ganzen Familie einen Dienst. Die wendet sich Knall auf Fall von Adolf S. ab. Die Mutter traut sich, die Scheidung einzureichen, einige Angehörige machen vor Gericht vom Zeugnis­verweigerungs­recht Gebrauch, andere sagen nichts Gutes über S. Irgendwie meint wohl jeder - Ermittler, Gericht, Familie -, hier habe es den Richtigen erwischt. Nur so ist die Fahrlässigkeit bei der Wahrheits­suche zu erklären.

Noch während ihr Vater in Untersuchungshaft sitzt, weitet Amelie die Beschuldigungen aus. Im Dezember 1994 gerät der Bruder ihrer Mutter, Bernhard M., der bei den Großeltern wohnt, wenn er alle paar Wochen von der Bohrinsel heimkommt, ihr ins Visier. Im Tagebuch vom 3. November war er noch die Lichtgestalt. Wenn er sie in der Psychiatrie besuchte, wollte Amelie, so die Zimmer­kameradin, mit dem Onkel ungestört reden. Auch die Familie sagt, ihr sei nicht aufgefallen, dass das Verhältnis zwischen Onkel und Nichte irgendwie getrübt sein könnte, dass sie einen Bogen um ihn machen würde, wenn sie am Wochenende nach Hause durfte.

Und doch fängt Amelie in der Vorweihnachtszeit an, M. auf der psychiatrischen Station verdächtig zu machen. Den Polizei­protokollen ist zu entnehmen, wie aus düsteren Andeutungen im kleinen Kreis der Psychologinnen und Kranken­schwestern mehr und mehr wird. Im März 1995 schildert sie dann diverse Vergewaltigungen, von denen einige fast ein Jahr zurückliegen, andere gerade erst geschehen sein sollen. Zum Beweis zeigt sie heftige Blutergüsse an Brüsten und Ober­schenkeln vor, von denen sie behauptet, ihr Onkel habe sie ihr zugefügt, als er ihr beim Heimurlaub am Wochenende auf der Autofahrt in einem Toyota sexuelle Gewalt angetan habe.

Kein Gerichtsmediziner wird hinzugezogen, in dessen Fach die Bestimmung von Hämatomen gehört, kein Polizei­fotograf dokumentiert den Vorfall, vielmehr kümmert sich die Schwesternschaft auf der Station selbst um die Beweis­sicherung. Die erste Fotoserie mit einer Sofort­bild­kamera geht schief, alles ist schwarz. Darum bringt der Chef der Psychiatrie­station, Dr. C., anderntags seine Privatkamera mit. Mit ihr werden die Unterblutungen dann über­belichtet und laienhaft abgeknipst. Die Polizei legt eine Fotomappe an (trotzdem bringt das Gericht später die Bilderserien verschiedener Tattage durch­einander). Wie, wann und unter welchen Umständen die Hämatome also entdeckt wurden, welche Angaben Amelie machte oder in welchem Allgemein­zustand sie sich befand - das alles bleibt exklusiv in der Deutungshoheit der Kinder- und Jugendpsychiatrie, deren Personal aus der Solidarität mit der Patientin keinen Hehl macht. Die blauen Flecken sind der einzige Beweis für Amelies Angaben, eine kriminal­biologische Spuren­sicherung im Toyota unterbleibt. Eine zweite gynäkologische Untersuchung am 6. März 1995 ergibt, dass Amelie nach wie vor Jungfrau ist. Am 29. August 1995 beginnt der zweite Vergewaltigungs­prozess, diesmal gegen ihren Onkel Bernhard.

Etwa zwei Jahre später, Vater und Onkel sind längst hinter Gittern, gibt Amelie in einer Entgiftungs­klinik zu Protokoll, sie habe 1994/95 in der Papenburger Psychiatrie "gezielt" Medikamente konsumiert. Schlaf- und Beruhigungs­mittel wie Betadorm und Tranxilium, aber auch die Blut­gerinnungs­hemmer Marcumarund Aspirin. Sie sagt, sie habe sich diese Arzneien einverleibt, um bei den Selbstverletzungen "zu verbluten". Vermutlich hat Amelie sie auf den Wochenend­heim­fahrten dem Apotheker­schrank der Großmutter entnommen. Die starke Blutungs­neigung durch Marcumar führt auch dazu, dass sich schon bei geringer Gewalt­einwirkung großflächige Hämatome bilden. Die auf Fotos gebannten Blutergüsse der Amelie, die später von mehreren Rechts­medizinern als typische Selbst­verletzungs­zeichen erkannt werden, ließen sich also durch Kneifen und Kneten von Brüsten und Oberschenkeln leicht selbst herstellen. Doch vor Gericht kommt der Medikamenten­missbrauch nicht zur Sprache, die Richter glauben bis zum Schluss an "massive Gewalt" vonseiten des sexuell erregten Onkels, wobei die Zeugin "stark verletzt" wurde.

Auch die Frage, warum ein bislang unbescholtener Mann wie Bernhard M. im Alter von 40 Jahren überraschend zum Gewalt­verbrecher geworden sein soll, klärt das Gericht nicht. Dabei ist die Diskrepanz zwischen der über­einstimmend als freundlich geschilderten Natur des Angeklagten und den ihm zur Last gelegten Verbrechen größer kaum denkbar. Er gilt als eine Art Familien­heiliger, als überaus sozial, gläubig und barmherzig. Trotz des angeblichen Charakter­umschwungs wird der Angeklagte psychiatrisch nicht untersucht.

Körperlich auch nicht. Weder Ermittler noch Richter interessieren sich für das Geschlechts­leben eines Mannes, dem schwere Sexualdelikte vorgeworfen werden. Niemanden wundert, dass M. zwar eine ganze Armee von Geschwistern, Schwagern und Neffen hat, aber keine Frau. Er lebt immer noch bei den Eltern, Freundinnen oder Bett­geschichten gibt es nicht. Als einzige Vertraute des Bernhard M. wandert nur Sonja K. kurz durchs Bild, die 1994 einige Wochen mit ihm "pärchenmäßig zusammen war". Sie wird am 31. März 1995 von einer Kommissarin auf der Papenburger Dienststelle vernommen und gibt dort zu Protokoll, es habe gewisse sexuelle "Schwierigkeiten" gegeben, über die sie ohne M.s Zustimmung nicht sprechen wolle. Was meint sie?

Ohne die Zustimmung des inhaftierten M. taucht Sonja K. vor Prozessbeginn in der Papenburger Kanzlei seines Verteidigers Dieter Gerken auf. Dort schüttet sie ihr Herz aus: "Ich habe niemals mit Bernhard M. geschlafen. Er konnte nicht." Diese Aussage trägt Sonja K. schamrot als Zeugin am 31. August 1995 im Saal 188 des Landgerichts Osnabrück unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor: Bernhard M. habe niemals in sie eindringen können. Noch heute schüttelt der Groll die schmächtige Frau, wenn sie an die Haupt­verhandlung und an die Erkenntnis­resistenz der Richter zurückdenkt. Der ZEIT sagt sie: "Sie glaubten niemandem, der Amelie widersprach. Sie haben mir kein Wort geglaubt."

Nach dem Augenschein drängt sich auf: So kann es nicht gewesen sein

Einer hält das gescheiterte Liebespaar für glaubwürdig. Es ist der Kieler Sexualmediziner Professor Reinhard Wille. Er hat Bernhard M. im Frühjahr 2002 ärztlich untersucht und dessen streng gehütetes Lebens­geheimnis zutage gefördert. In seiner Expertise gelangt Wille zu folgender Diagnose: Der als Vergewaltiger verurteilte M. leidet seit früher Kindheit - möglicherweise ausgelöst durch eine schwere Hirnentzündung im Säuglings­alter - an der sehr seltenen "Primären männlichen Alibido": Das heißt, ihm fehlt jede geschlechtliche Trieb­haftigkeit und damit auch die Fähigkeit zu stabilen Erektionen. Der Begriff "leiden" trifft auch nicht ganz, denn zum Krankheits­bild der Alibido gehöre, dass der Betroffene das Fehlen der Sexualität nicht vermisst und sich durchaus als normal empfindet. Solche Menschen kompensieren ihr Defizit typischerweise durch übermäßiges Sozialverhalten oder Religiosität. Die Liebe zu einer Frau verwandelt sich in die Liebe zum Nächsten oder zu Gott. Aus Eros wird Agape, männlicher Egoismus weicht karitativer Fürsorge.

Das strafrechtliche Fazit des Sexual­mediziners ist, dass M. für die ihm vorgeworfenen sexuellen Gewalt­handlungen als Täter nicht in Frage kommt. Seine Conclusio zum Casus M. lautet: "Nie in meiner langen Berufs­tätigkeit als foren­sischer Sexual­mediziner stieß ich auf eine krassere Diskrepanz zwischen den gegen null tendierenden Freuden und dem immensen Leiden, die einem Menschen aufgrund seiner sexuell-erotischen Besonderheit zuteil wurden." Das alles wussten die Osnabrücker Richter 1995 freilich nicht. Aber sie hätten es wissen können, wenn sie es hätten wissen wollen - sie hätten eben der Zeugin Sonja K. genau so intensiv zuhören müssen wie der Belastungs­zeugin Amelie.

Der Einzige, der Amelies Geschichten im Prozess hinterfragt und bezweifelt, der dem Räderwerk der Justiz in die Speichen greift, ist Dieter Gerken, Bernhard M.s damaliger Verteidiger. Er kämpft für seinen Mandanten, und fast hat er Erfolg. In den zwei Verhandlungs­tagen in jenem August 1995 bombardiert er das Gericht mit 19 Beweisanträgen, die die Behauptungen der Haupt­belastungs­zeugin widerlegen sollen. Sogar einen "Augenschein" setzt er durch: Das Gericht und die Beteiligten begeben sich am Nachmittag des 31. August geschlossen in den Gefängnishof und nehmen dort an jenem Kleinwagen der Marke Toyota eine Musterung vor, in dem der 1,92 Meter große und 111 Kilogramm schwere M. seine 90 Kilo wiegende Nichte auf dem Beifahrersitz vergewaltigt haben soll, ohne die Sitze in die Liegeposition zu bringen. M. wird allein in den Wagen gestopft, Amelie ist nervlich nicht in der Lage, der Prozedur beizuwohnen. "Es war auch so offenkundig, dass das so nicht stattgefunden haben konnte", erinnert sich Gerken heute, Staatsanwalt und Richter hätten sich bedeckt gehalten.

Derart in die Klemme geraten, habe der Vorsitzende Richter, ihm, dem Verteidiger Gerken, nun folgenden Vorschlag unterbreitet: Wenn Bernhard M. wenigstens ein Teilgeständnis ablege, wolle man es mit zwei Jahren auf Bewährung gut sein lassen, und der Angeklagte werde sofort freigelassen. "Das war eine goldene Brücke für jemanden, der wegen vierfacher Vergewaltigung und sexueller Nötigung angeklagt war", sagt Gerken, "eine super­goldene Brücke." Doch M. geht nicht darüber. Im Gegenteil: Als Gerken das Angebot an ihn weiterleitet, wird er sehr zornig. Und nachdem das Gericht am Morgen des 1. September in Erwartung eines Geständnisses den Saal räumen ließ, sagt M. bloß: "Ich will einen neuen Anwalt. Dieser hier glaubt nicht an meine Unschuld." Damit platzt der Prozess. Denn nach der Straf­prozess­ordnung muss jeder Angeklagte einen Verteidiger haben. Eine neue Hauptverhandlung muss anberaumt werden. M. habe, sagt Gerken, die Freiheit vor Augen gehabt und der Versuchung widerstanden: "Das hat mir schwer zu denken gegeben." Nicht aber dem Gericht. Derselbe Vorsitzende Richter, der M. im Sommer 1995 mit Bewährung lockte, setzt im Januar 1996 seine Unterschrift unter viereinhalb Jahre Freiheitsstrafe.

Aber zuvor findet noch die zweite Hauptverhandlung gegen M. statt. Sie wird am 28. November 1995 eröffnet. Nun wird kein Toyota-Termin mehr anberaumt, auch die Potenz des Angeklagten ist kein Thema mehr. Der neue Verteidiger stellt keine derartigen Beweisanträge, und das Gericht kommt von sich aus nicht darauf zurück. Wieder wird M. weder körperlich noch geistig untersucht. Dafür rechnet man ihm aber straf­verschärfend an, dass er sich von seinem "damaligen Verteidiger abgewandt" habe und deshalb für eine "Verfahrens­verlängerung" verantwortlich sei, die die Zeugin Amelie "einer besonderen psychischen Belastung" ausgesetzt habe. So steht es im Urteil.

Diese besondere Belastung der Amelie entgeht niemandem. Die Prozess­phasen sind flankiert von dramatischen Auftritten, Selbst­verletzungen und Selbstmord­versuchen. Einmal kann die Haupt­verhandlung nicht pünktlich beginnen, weil sich Amelie auf dem Osnabrücker Bahnhof vor den Zug werfen will. Wenn ihr mir nicht glaubt, bring ich mich um, lautet die tägliche Botschaft. Auf dem Gericht lastet ein enormer Druck, wer will schon daran schuld sein, wenn die Haupt­belastungs­zeugin sich das Leben nimmt? Das Gericht gibt sich verständnisvoll: Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen, wenn Amelie spricht. Ihre Familie, die ihr, wie die Richter erfahren, inzwischen kein Wort mehr glaubt, muss das Gerichts­gebäude verlassen, wenn sie naht. Der Verteidiger sitzt kleinlaut dabei und wird auch noch ermahnt, sich zurückzuhalten. Und der Angeklagte muss sogar dem eigenen Prozess fernbleiben, wenn Amelie aussagt, weil sie sich durch ihn gehemmt fühle.

Das Urteil liest sich wie von der Opferzeugin selbst diktiert

Das Mädchen weiß nicht nur die Mitarbeiter der Psychiatrie und die Glaub­würdigkeits­gutachterin auf seiner Seite, es bestimmt auch das Geschehen im Gericht. Das Urteil gegen Bernhard M. liest sich wie von Amelie selbst diktiert. Alle Beweis­ketten, die geknüpft werden, führen zu ihr zurück, alle Problemkreise, die vom Gericht abgearbeitet werden müssen, entspringen ausschließlich ihren Behauptungen. Das 86 Seiten dicke Urteil handelt fast nur von ihr. Für den Angeklagten fallen gerade ein paar Zeilen ab. So gut wie alles, was die Zeugin der Anklage aussagt, finden die Richter "nach­voll­ziehbar", Absurditäten inbegriffen. Wer ihr widerspricht, wird als unglaubwürdig oder als böswillig abqualifiziert.

Da soll - laut Amelie - der heimlich ins Haus geschlichene Onkel sie Weihnachten 1994 sexuell angegangen haben, während sie mit einer Schwester von der psychiatrischen Station telefoniert habe. Die Schwester am Apparat hat davon nur mitbekommen, dass Amelies "Sprechweise" sich verändert habe. Erwartungs­gemäß fragte sie das Mädchen, ob denn der Onkel (über den Amelie im Anruf schlimme Andeutungen macht) in der Nähe sei. "Ich weiß nicht", antwortete Amelie. - Diese Geschichte vom Onkel, der seine Nichte (die den Vater soeben wegen Vergewaltigung hinter Gitter gebracht hat) beim Telefongespräch belästigt, glaubt das Gericht, obwohl die beschriebene Situation alles andere als nach­voll­ziehbar ist. Außerdem hat der jüngere Bruder, der im fraglichen Augenblick nach Hause kam, niemanden gesehen, der Onkel besaß keinen Schlüssel, und das Gericht konnte nicht klären, wie er ins Haus gekommen sein sollte. Da wird Amelie - an anderer Stelle in der Urteilsschrift - im Laderaum eines VW-Busses Gewalt angetan, während Schulkinder - die nachher nicht aufgetrieben werden - zum Fenster hereinschaun. Solche Beispiele gibt es viele.

Auch die Tatsache, dass das Opfer nach wie vor Jungfrau ist, wird in die Argumentation zwangs­integriert. Zwar kommt es in seltenen Fällen vor, dass Hymen ein­vernehmlichen Geschlechts­verkehr unbeschadet überstehen, aber dass ein Jungfern­häutchen nach den Strapazen einer 10fachen Vergewaltigung durch zwei Männer und einem Kleider­bügel­angriff noch heil ist, wäre ein medizinisches Wunder (noch dazu, wenn man bedenkt, dass Amelie bei der ersten Vergewaltigung ein 12-jähriges Kind gewesen sein will). Und doch wird dieses Wunder zur juristisch abgesicherten Gewissheit, auf die man eine Verurteilung stützt. Und der Einwand eines zurate gezogenen Rechts­mediziners, der die fotografierten Hämatome an Brüsten und Beinen für Selbst­beibringungen hält, wird als "eher unwahrscheinlich" abgetan.

Man hört die Wirklichkeit förmlich knarren und ächzen beim Zurechtgebogenwerden. Es ist immer wieder eine Mühsal, sie mit der Aussage von Amelie in Einklang zu bringen. Doch das Gericht schafft es. Zweifel an dieser Zeugin werden verworfen. Vater Adolf muss ihretwegen sieben Jahre sitzen. Und der Prozess gegen den Onkel ist ein Aufguss des Verfahrens gegen den Vater: derselbe Vorsitzende Richter, dieselben Beisitzenden Richterinnen, derselbe Staatsanwalt, dieselbe Glaub­würdigkeits­gutachterin, dieselbe Nebenklage­vertreterin, dieselbe Verletzte, derselbe Vorwurf der Vergewaltigung, sogar derselbe Gerichtssaal. Auch die aufgerufenen Zeugen sind zum Teil dieselben und die ermittelnde Kriminalbeamtin sowieso. Allein die Schöffen haben gewechselt - und der Angeklagte.

Die Richter übergehen sogar, dass Amelie zweimal beim Lügen erwischt wird. Einmal behauptet sie, ihr Onkel habe beim Vergewaltigen ein Kleidungsstück getragen, das dieser nachweislich gar nicht besaß, das andere Mal ändert sie nachträglich ein Datum, als sich herausstellt, dass der Onkel ein Alibi hat. Als Amelie ihren Onkel am 22. März 1995 bei der Polizei Papenburg anzeigt, sagt sie aus, er sei Mitte April 1994, also sechs Wochen vor ihrer Einlieferung in die Psychiatrie, zweimal hintereinander über sie hergefallen, als sie in der Dachkammer der Großeltern übernachtet habe. Diese Aussage bekräftigt sie am 24. März gegenüber der Glaub­würdigkeits­gutachterin M. Kurze Zeit später meldet sich Amelies Tante Pia aus dem Süddeutschen bei der Kriminalbeamtin und bringt die Angabe ins Wanken: Sie selbst, Pia, habe mit ihrem Mann von 1. bis 10. April 1994 bei den Großeltern Urlaub gemacht und in dem Durch­gangs­zimmer zu Amelies Kammer geschlafen. Da habe niemand durchlaufen und nebenan vergewaltigen können. Am 10. April aber sei man geschlossen abgereist: Pia, ihr Ehemann und ihr Schwager, Bernhard M., der anderntags seinen dreiwöchigen Dienst auf der Bohrinsel habe antreten müssen (eine Angabe, die von der Bohrfirma bestätigt wird). Am Ende ihrer Aussage prophezeit Tante Pia der Polizei noch, dass Amelie sicher "andere Tatzeiten nennt, wenn sie erfährt, dass ich den Bernhard hinsichtlich der Tatzeiten im April entlaste". Und so kommt es.

Kurz nachdem die Tante Pia das Alibi gegeben hat, taucht Amelie auf dem Papenburger Kommissariat auf, um sich bei der Beamtin mit einer Postkarte ("Sie haben mein Leben lebenswert gemacht") zu bedanken. Sie wird dort, wie in einem Polizei­vermerk zu lesen ist, auf den "jetzigen Stand der Ermittlungen gegen ihren Onkel" gebracht und streng ermahnt. Es wird ihr eine Nach­vernehmung angekündigt.

Drei Tage später hat die über den Ermittlungsverlauf informierte Amelie neue Versionen und Daten parat: Die Vergewaltigungen in der Dachkammer hat sie nun um vier Wochen in die Mitte des Mai verlegt, eine weitere Vergewaltigung (im VW-Bus auf einem öffentlichen Parkplatz) hinzugefügt. Diese Versionen trägt sie dann der Polizei und später auch dem Gericht vor. Sie gibt zu, gelogen zu haben, und begründet dies damit, dass sie im Mai 18 Jahre alt geworden, also bei der Vergewaltigung volljährig gewesen sei. Sie habe aber geglaubt, die Vergewaltigung einer Erwachsenen sei nicht strafbar und deswegen das Verbrechen in den April vordatiert, damit der Onkel seine Strafe kriege. Die Richter schlucken auch das. Tante Pia und ihr Alibi tauchen im Urteil gar nicht mehr auf. Vielmehr ist davon die Rede, der "Druck des schlechten Gewissens" und der "Wunsch, wahrheitsgemäße Angaben zu machen", hätten das Mädchen "von sich aus" zur "Richtig­stellung" ihrer Aussage bewegt.

Bleibt die Frage nach der geistigen Gesundheit der Haupt­belastungs­zeugin. Auch diese lässt das Gericht nicht von forensischen Gutachtern klären. Es begnügt sich damit, die behandelnden klinischen Psychiater des Marien­kranken­hauses Papenburg, Dr. C., und des Landes­kranken­hauses in Osnabrück (wo Amelie 1995/96 auf der geschlossenen Abteilung behandelt wird), Dr. W., als Zeugen zu hören. Das schriftliche Gutachten eines unabhängigen Experten, der nicht an Genesung und Wohlergehen seiner Patientin interessiert ist, sondern allein am Wahrheits­gehalt der strafrechtlich relevanten Aussage einer verhaltens­auffälligen Frau, gibt es nicht. Einzige Sachverständige für Seelen­angelegenheiten im Prozess: die Glaub­würdigkeits­spezialistin M., die in zwei Gutachten bereits kundgetan hat, dass sie dem Mädchen glaubt.

Die Psychiater Dr. C. und Dr. W. sagen vor Gericht zwar aus, sie hielten Amelie für durchaus in der Lage, eine solche Falschaussage zu konstruieren und über einen langen Zeitraum durchzuhalten, bescheinigen ihr aber andererseits psychische Gesundheit. Trotz der langen Zeit, die Amelie nun schon psychiatrischer Behandlung bedarf, machen sie nur eine "post­traumatische Belastungs­störung" aus, wie sie bei Menschen, die Schreckliches erlebt haben, vorkommt. Andere psychiatrische Erkrankungen, wie eine Borderline-Störung, die die ganze Persönlichkeit schwerwiegend in Mitleidenschaft zieht, schließen die Psychiater vor Gericht ausdrücklich aus. Es kommt kein Zweifel daran auf, "dass es sich bei der Zeugin um eine beständige, ehrliche Patientin handelt, die nie unter hysterischen Persönlichkeits­störungen litt". Auch die Richter finden das - die Kammer habe sich ja einen "persönlichen Eindruck" von Amelie machen können. Ihre Anwandlungen führt man auf die psychische Belastung durch die Prozesse zurück.

Perfekt verschraubte Amelie Wahrheit und Fiktion miteinander

Man hätte also annehmen können, dass im Januar 1996, nach der Verurteilung des M., die Genesung der Nichte Amelie einsetzt, was laut Kranken­unterlagen nicht geschieht. Im Gegenteil. Die nun 20-Jährige muss sich wegen schwerer Alkohol- und Medikamenten­sucht - die eine lange Vorgeschichte hat - zwei Entziehungs­kuren und einer Entwöhnung in einer Klinik unterziehen. Allein im Mai 1996 begeht sie fünf Selbstmord­versuche. Im Landes­kranken­haus Osnabrück wird sie wegen "akuter Suizidalität" über viele Wochen "dauerfixiert", also festgeschnallt. Eine Freundin, die Amelie dort besucht, trifft auf eine aufgedunsene, "völlig weggetretene" Gestalt, die unter schweren Medikamenten steht. Speichelfäden seien ihr aus dem Mund geronnen und die Extremitäten von den Selbst­verletzungen blutig aufgerissen gewesen. In den Schreiben, die Dr. W. vom Landes­kranken­haus zu jener Zeit verfasst, ist keine Rede mehr von der "ehrlichen und beständigen Patientin". Von "starker Abhängigkeits­symptomatik" ist zu lesen, "Ess-Brech-Attacken", "dissoziativen Zuständen". Diagnose: "Emotional instabile Persönlichkeits­störung vom Borderline-Typus. Alkohol- und Medikamenten­abhängigkeit. Bulimarexie".

Hat der Psychiater die Borderline-Störung etwa erst kurz nach der Urteils­verkündung erkannt? Wäre die Diagnose früher gestellt worden, hätte Amelie niemals als glaubwürdige Zeugin gegolten - jedenfalls nicht ohne eine forensisch-psychiatrische Untersuchung. Im Februar 2002 hob der Bundes­gerichts­hof gerade ein Urteil des Landgerichts Nürnberg wegen Vergewaltigung auf, weil die Richter nicht berücksichtigt hatten, dass am Opfer - auch hier die einzige Zeugin - Verhaltens­auffällig­keiten zutage traten, die auf eine Borderline-Persönlichkeits­störung schließen lassen. Borderline-Patienten neigen zum Lügen und zum Manipulieren ihrer Umwelt. Auf das, was sie aussagen, ist nach Auffassung der Bundesrichter ohne Klärung kein Verlass.

Amelie war also krank, schwer krank sogar. Zur Zeit der Ermittlung und zur Zeit der Haupt­verhandlungen - seit langer Zeit. Denn eine Borderline-Störung, Misch­erkrankung zwischen hochgradiger Neurose und Psychose, entsteht nicht in ein paar Wochen. Sie bildet sich, so ist es im Standard­nach­schlage­werk, dem Handbuch der Borderline-Störungen nachzulesen, in der Kindheit, meist in der frühesten, und bricht nach der Pubertät aus. Einiges spricht für die Erblichkeit dieser Disposition (schon deshalb hätte das Gericht Amelies gewalttätigen Vater untersuchen lassen müssen). Auch sexueller Missbrauch sei nicht selten Ursache dieses Leidens, steht da, ebenso aber körperliche Gewalt gegen das Kind, Vernachlässigung oder der Verlust eines Elternteils. Drei dieser vier Bedingungen erfüllt Amelie: Dass sie misshandelt und vernachlässigt worden ist, steht außer Frage, und darüber hinaus war sie beim Sterben ihrer leiblichen Mutter dabei. Wie nahe Verwandte berichten, erlebte das Kleinkind Amelie mit, wie die Mutter, erste Frau des Adolf S., auf dem Sofa einen schrecklichen Tod starb. Den Diabetes insipidus, an dem sie litt, hatte der Hausarzt nicht erkannt. So verdurstete die 26-Jährige tagelang vor den Augen ihrer Töchter Bianca und Amelie, vier und anderthalb Jahre alt. Welche Szenen mögen sich damals abgespielt haben? Die Mutter der Toten beschuldigte ihren Schwiegersohn Adolf später schmerzerfüllt, er trage Schuld am Tod der Tochter. Was hat Amelie davon verinnerlicht? Auf welchem Wege erfuhr sie, dass die zweite Frau S. nicht ihre wahre Mutter ist? Darüber kann niemand Auskunft geben.

All diese Erkenntnisse gingen an der Strafkammer des Osnabrücker Landgerichts vorbei. Es wurde ermittelt, diagnostiziert, geurteilt, eingesperrt. Kunstfehler um Kunstfehler wurden begangen. Perfekt und auf gewisse Art bewundernswert verhielt sich nur Amelie, die ihre fantastischen Geschichten so genial in die Realität hinein­schraubte, bis Lüge und Wahrheit kaum trennbar miteinander verbunden waren. Eine Meisterleistung, die ihr den Sieg eintrug. Einen Pyrrhussieg.

Heute lebt sie irgendwo in Deutschland in einer betreuten Wohngruppe mit anderen psychisch belasteten Mädchen. Sie muss Tabletten nehmen und schreibt manchmal an eine Cousine, wie es ihr geht und dass der Kater ihre Wellensittiche gefressen hat. Bei ihrer Aussage ist sie geblieben. Am 18. Dezember 2001 schreibt sie: "Auch wenn damals die Anzeigen bei Euch Wut, Enttäuschung, Hass, Irritation hervorgerufen haben, vielleicht wäre ohne diese Anzeigen alles noch viel, viel schlimmer geworden, vielleicht hätte mein Vater uns alle umgebracht ..."

Auch der als Vergewaltiger verurteilte Bernhard M. schrieb Briefe aus der Zelle. Zum Beispiel an den Anwalt seines Schwagers: "Machen Sie Adolf klar, dass er an seiner Situation selber schuld hat. Sein Psychoterror hat Amelie veranlaßt, berechtigt Rache zu nehmen und ihn zu Unrecht der Vergewaltigung anzuzeigen! Sie kann genauso gut lügen wie er. Sie hat Angst, die Lüge zurückzunehmen, denn Adolf würde ihr nie verzeihen. Deshalb musste auch ich in den Knast, weil ich ihr die Sache mit Adolf nicht glaubte." Auf seinen Besuchen in der Papenburger Psychiatrie habe Onkel Bernhard mit Amelie über "Gott und Religion" geredet, steht im Urteil, versuchsweise auch über Adolf. Man kann sich vorstellen, wie der fromme Onkel mit der Bibel unter dem Arm auf Amelie einredet: Kind bleib bei der Wahrheit! Der Adolf ist schlimm, aber so was darfst du ihm nicht anhängen. - Er sei als Zeuge vorgesehen gewesen im Verfahren gegen den Vater, sagt Bernhard M. Und sie habe Angst gehabt, dann nicht mehr glaubwürdig zu sein. Dann wäre sie aus dem Paradies der Psychiatrie vertrieben worden, wo sie endlich geliebt wurde, wo sie mit ihren Märchen das Zentrum aller Zuwendung war, hinaus hätte sie müssen, in die hässliche Welt, in die Familienhölle, wo Papa Adolf schon auf Rache sinnt. War das ihr Motiv?

Auch über M. wird geschrieben. So am 7. November 1997 von der Justiz­vollzugs­anstalt Meppen an die Staats­anwaltschaft Osnabrück. Thema: die Prognose. Auffällig sei, schreibt die JVA, "dass Herr M. weiterhin bestreitet, der Täter zu sein". M. halte sich hartnäckig für unschuldig, sei "nicht in der Lage, sein Handeln zu akzeptieren, und kann sich nicht mit der Straftat aus­einander­setzen". Deshalb wird von der Anstalt eine vorzeitige Entlassung "nicht befürwortet". M. muss (ebenso wie S.) als uneinsichtiger Gewalttäter seine Strafe bis auf den letzten Tag absitzen. Danach ist er ein gebrochener Mann.

Die Geschichte der Amelie, ihres Vaters und ihres Onkels ist nicht nur die Chronik eines Justizirrtums, sie zeigt auch, in welchem Rechtssystem wir leben. Denn die Strafjustiz soll der Wahrheit verpflichtet sein und gebrochenes Recht wieder­herstellen. Dieser Anspruch gründet sich auf das Vertrauen in die Akribie der Polizei und die Verlässlichkeit der Staatsanwaltschaft, auf die Erfahrung von Sachverständigen, auf den Mut und die Hartnäckigkeit der Verteidiger, auf die professionelle Leidenschaft der Richter, alles Erfahrbare zu erfahren, auf die Unbestechlichkeit und die Weisheit ihres Urteils. "Im Namen des Volkes" wird geurteilt, aber die Idee des Volkes vom Recht und sein Glaube an Gerechtigkeit beruhen letztlich auf den Tugenden all jener Menschen, die das Recht verkörpern. Einfalt, Nachlässigkeit, Feigheit, Ignoranz, Selbstherrlichkeit und sozialer Ekel sind dabei nicht vorgesehen. Treten sie aber auf, setzen sie den Mechanismus der Wahrheits­findung außer Kraft.

Die Menschen, die die Verurteilung von Adolf S. und Bernhard M. verantworten, sind nicht zu sprechen: Der Vorsitzende Richter, seit dem vergangenen Jahr im Ruhestand, beruft sich auf eine Verfügung des Landes Niedersachsen, die Justiz­angehörigen untersagt, sich gegenüber der Presse zu äußern. Die Glaub­würdigkeits­gutachterin M., die Amelies Behauptungen für bare Münze nahm, will ihren Gutachten nichts hinzufügen. Die Psychiater Dr. C. und Dr. W., die der Opferzeugin psychische Gesundheit bescheinigten, weisen auf die ärztliche Schweigepflicht hin. Und in der Wohngruppe der Amelie selbst meldet sich eine Betreuerin, die die Bitte um ein Interview weiterzugeben verspricht und sich dann nie mehr meldet. Alle schweigen. Schade. Doch das Papier spricht für sie.[1]

Wiederaufnahmen und Freisprüche

Es gibt später immer wieder Bemühungen, die Verfahren gegen Vater und Onkel neu aufzurollen. Die Revisionen scheitern an der Überforderung der Verteidiger und an der Unachtsamkeit des Bundes­gerichts­hofs: Anwälte wie prüfende Richter überlesen gravierende Mängel der Urteile, etwa den zwar wiederholt beschriebenen, aber in der Beweis­würdigung ausgesparten Alkoholismus der Haupt­belastungs­zeugin oder das Durcheinander im Bildmaterial. Ein Wieder­aufnahme­antrag im Falle M. misslingt 1999 wegen ungenügender Rechts­kenntnisse des Verteidigers. Die Wiederaufnahme ist die schwerste Schlacht in der Juristerei. Der Gesetzgeber hat hier kaum überwindbare Hürden aufgebaut. Völlig neue Tatsachen oder ganz neue Beweise müssen her. Haben sich die Richter dem Urteil nach mit einem Thema - wenn auch inkompetent - schon befasst, ist es nicht mehr neu.

Nachdem Vater und Onkel ihre Strafen vollständig verbüßt hatten, veröffentlichte die Journalistin Sabine Rückert 2002 in der Zeit Ergebnisse ihrer Recherchen und konstatierte einen zweifachen Justizirrtum.[2] Rückert war 2001 auf den Fall aufmerksam geworden durch einen Hinweis des Rechtsmediziners Bernd Brinkmann, der von der Unschuld der beiden Verurteilten überzeugt war. Der von ihr zugezogene Strafverteidiger Johann Schwenn reichte am 2. Mai 2002 für M. einen ca. 300 Seiten umfassenden Wiederaufnahmeantrag ein. Das Gesuch stützte sich auf folgende Gründe:

  • Bernhard M. war infolge einer Hirnhautentzündung im Säuglingsalter alibidinös und zum Geschlechtsverkehr mit einer stabilen Erektion unfähig.
  • „Amelie“ und eine Pflegerin hatten ihre Aussagen bei der Polizei miteinander abgesprochen.
  • „Amelie“ änderte in der ersten Hauptverhandlung das Datum eines Vergewaltigungsvorwurfs, nachdem eine Zeugin Bernhard M. entlastet und eine ermittelnde Beamtin „Amelie“ deren Aussage zugespielt hatte.
  • Die behauptete Vergewaltigung im Toyota habe aus Platzgründen nicht stattfinden können.
  • „Amelie“ habe in großen Mengen die Gerinnungshemmer Marcumar und Aspirin zu sich genommen, um sich selbst Hämatome zuzufügen.
  • „Amelie“ sei an Borderline erkrankt, was die Therapeuten wider besseres Wissen in der Hauptverhandlung bestritten hätten.

Eine Stellungnahme der prüfenden Staatsanwältin stritt diese Begründungen ab. Das Landgericht Oldenburg ordnete die Wiederaufnahme an, das neue Verfahren gegen Bernhard M. endete am 14. Dezember 2005 mit einem Freispruch wegen „erwiesener Unschuld“.

Im Anschluss beantragte Schwenn auch die Wiederaufnahme für Adolf S. Dieser wurde am 2. Oktober 2006 ohne Neuverhandlung ebenfalls freigesprochen.[3]

Der Missbrauchsvorwurf und die Lüge

Sabine Rückert über die Lüge:

"Einer, der lügt, und einer, der glaubt - und sich nach und nach zum Koalitionär der Lüge macht.
Je präziser die Lüge mit den Erwartungen des Belogenen übereinstimmt, desto erfolgreicher entfaltet sie ihre Wirkung."

Das Mädchen Amelie - das in anderer Hinsicht durchaus ein Opfer war - präsentierte sich als Vergewaltigungs­opfer und wählte damit eine Methode, die bis heute zu funktionieren verspricht: Sie instrumentalisierte ein heikles Thema, dem sich jeder nur mit Scheu nähert. Die Political correctness der Angesprochenen gebietet es, dem vermeintlichen Opfer zu glauben, Zweifler laufen Gefahr, selbst im Reich des Bösen verortet zu werden.[4]

Kritik

Sabine Rückert resümiert über die Tatsache, dass wegen eines erfundenen Missbrauchs zwei Männer ins Gefängnis mussten:

" Die Justizirrtümer enthüllen die Ideologie eines fehlgelaufenen Feminismus."

Die Tragödie um Amelie hat viele Ursachen, und sie besteht auch darin, dass das Mädchen von einem kranken System ins nächste wechselte. Misshandelt und isoliert in der Familie, flüchtet sie sich in den professionell wirkenden Schutz der Psychiatrie. Doch wo man ihr Hilfe verheißt, ist keine zu erwarten. Stattdessen führen die vermeintlichen Retter Amelie noch weiter in die Irre. So wird das Schicksal dieses Mädchens zum Spiegel der dunklen Seite des Feminismus.[5]

Einzelnachweise

  1. Sabine Rückert: Justiz: Unrecht im Namen des Volkes, Die Zeit 19/2002
  2. Sabine Rückert: Unrecht im Namen des Volkes. In: Die Zeit. 2. Mai 2002. Abgerufen am 27. August 2014.
  3. Sabine Rückert, Andreas Sentker: Die Justiz kratzt und beißt zeit.de, Podcast Verbrechen, 26. Februar 2019 (59:47 Min.)
  4. Sabine Rückert: Die Geschichte eines Irrtums, Die Zeit 3/2007, 11. Januar 2007
  5. Sabine Rückert: Inquisitoren des guten Willens, Die Zeit 3/2007, 11. Januar 2007

Weblinks